Montag, 21. Oktober 2013

Dekontamination

DEKONTAMINATIONSSEIFE steht in blauen, eckigen Buchstaben auf der weißen Plastikbox. Kontaminiert sind wir alle, die wir hier reinkommen, auf die Toilette in diesem indischen Restaurant in dieser Stadt, in der ich noch nie zuvor war.
Dekontamination, das riecht nach Chemie statt nach Milch und Honig oder künstlicher Aprikose, den üblichen Gerüchen aus Seifenspendern auf öffentlichen Toiletten. Dekontamination, was wäscht sich hier sonst noch weg, außer Schmutz unter den Fingernägeln, außer Dreck von der Straße, Talg auf der Haut? Kontaminiert von der Straße, kontaminiert vom Leben, kontaminiert von dir selbst und dem Rest der Welt.
Du kannst es abwaschen, sagt es dir, einfach die Hände unter den Seifenspender und den Knopf gedrückt.
Dekontamination ist ein Prozess, der nur Minuten dauert. Und dann ist alles anders.
Dann sind sie weg,

die Ansteckungsgefahr
die Krankheitserreger
die Schmutzpartikel
die Lebenspartikel
die Lebensgefahr

Dekontaminiert sitzt du dann
an deinem Tisch
zwischen den anderen
Dekontaminierten
und brauchst eine Plastiktüte
Plastikfolie
für deinen ganzen Körper

denn mit jedem Schritt, den du machst
jeder Bewegung, die du wagst
schwebt neue Gefahr heran
hängt über deinem Kopf
ein neues Schwert.

Offene Worte
sind nicht immer weise
schreibt doch einfach SEIFE
war das nicht auch so, als du klein warst
erwachte Ängste
die letzten Kinder von Schewenborn
bei euch um die Ecke
erst fielen nur Haare aus
dann auch die Sehfähigkeit
Kinder ohne Augen
wurden verschwunden
und du hattest Angst
bei jedem Geräusch eines Flugzeugs

jedes Geräusch eines Flugzeugs
war ein Vorbote
ein Vorbote des Dritten Weltkriegs
keine Bäume mehr, wenn du groß bist
Waldsterben, sagt eman dir
steht auf Deutsch im englischen Wörterbuch
erst Jahre später hast du gefragt. Und nein,
keine Engländerin, kein Amerikaner
wusste vom Woldstörben

und die Bäume sind immer noch da
auch wenn du nicht mehr kletterst
auch wenn der Regenwald schrumpft
und du keine Froschzäune baust
und nicht rausfährst mit kleinen Booten
um Wale zu retten
nicht mal nach Lampedusa fährst du
nur manchmal
erinnerst du dich
an das Kind
mit der Angst
im Bett
mit den Hubschraubern über dem Haus
und den Taschenbüchern im Regal
mit dem roten Streifen
und den pädagogisch bewussten Eltern
der achtziger Jahre
mit Geschichten über
Atombombensupergaus
sterbenden Wäldern
behinderten Kindern
Alkoholikervätern
verwahrlosten Teenagern
tödlichen Unfällen

Werde gut, rette die Welt
und die Welt war so groß
und deine Welt so gut
und du fühltest die Schuld
und den Hochmut
die anderen, die sind arm
ich bin reich
und mächtig

und dann kam der Supergau
du warst nicht mehr mächtig
die Welt war ganz klein
und du hattest keine Seife
zur DEKONTAMINATION

3 Kommentare:

  1. Hey CH,
    ich möchte auch einen Blog im Netz eröffnen. Ich möchte Dich fragen, die zufrieden Du mit der Adresse http://bloknotodernotblok.blogspot.de bist. Was ist einfach, wo stösst Du an Grenzen?
    Viele Grüsse
    Taro

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  2. Oh ja, ich erkenne sie wieder, die achtziger Jahre. Wieso durften uns eigentlich Eltern (bei mir war's eine Lehrerin) dazu zwingen, die Kinder von Schewenborn zu lesen? Oder waren wir schon solche Politik-Masoschisten, die immer dahin gucken mussten, wo's am schlimmsten war (und jede Katastrophenmeldung für bare Münze nahmen)?
    Kein Waldsterben, aber genug andere Katastrophen heute, bei denen es wenig Grund gibt, sie anzuzweifeln.
    Sind wir immernoch hilflos, oder haben wir uns daran gewöhnt, nicht mehr (aber auch nicht weniger) als ein steter Tropfen zu sein, der versucht, gegenan zu steuern?

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  3. Den Ansatz, Kindern ein politisches Bewusstsein beizubringen, finde ich sogar gut. Aber wenn es so angstbesetzt ist, führt es eher zur Starre, wie du schreibst: zur Hilflosigkeit. Wie könnte es besser funktionieren? Vielleicht lieber anhand von positiven Beispielen?

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