Montag, 1. September 2014

Bitte entspannen Sie jetzt!

Nach einem einmonatigen Aufenthalt in einer süddeutschen Kleinstadt wieder in Berlin leben, das bedeutet für mich zunächst einen erhöhten Pulsschlag und die Unfähigkeit, Termine einzuhalten. Ich komme einfach immer zu spät: Bayreuth hat mich verlangsamt und dem Großstadttempo entwöhnt. Also fliehe ich gleich wieder aufs Land und verbringe den ersten Sonntag an einem Ort, von dem ich mir slow motion und Entspannung erwarte: die Kristalltherme in Ludwigsfelde. Eins habe ich allerdings vergessen: Entspannung so ganz frei Schnauze? Nö. Zuerst müssen Regeln erlernt und eingehalten werden. Wer keine Disziplin zeigt, darf nicht entspannen.

In der Therme gibt es nicht nur 12 verschiedene Saunen, "heilende" Edelsteine, einen Kristallpfad, sondern auch zahlreiche thematische Aufgüsse, etwa den "Damen-Spezial-Aufguss 'Die zarteste Versuchung'" und den "Männer-Spezial-Aufguss 'Selbst ist der Mann'". Was das Männer- bzw. Damenspezifische dieser Angebote ist, habe ich nicht herausgefunden, weil ich mich stattdessen für den ebenso vielversprechenden "Hildegard-von-Bingen-Aufguss" entschieden habe.

Mit etwa 100 anderen Schwitzwilligen setze ich die ausgeteilte Eisbrille auf, reibe mich mit
Entspannungsöl ein, das wie gewöhnlicher Zitronensaft riecht, lausche den Zimbeln und Gongs, die die Entspannungsphase - und das bedeutet: Redeverbot - einleiten sollen, ertrage auch die Meditationsmusik, die plötzlich in der Sauna erklingt, und schrecke wieder auf, als jemand (unerhört!) gegen die Regeln verstößt: Er spricht! Nach dem Erklingen der Zimbeln! Vielstimmig wird er ausgebuht, angeschrieen ("Wir wollen hier entspannen!" /"Sogar die Kinder halten die Klappe!") und schließlich aus der Sauna und dem gesamten Thermalbad verwiesen. Entspannen, das geht schließlich nicht einfach so. Wer die Regeln nicht einhält, fliegt raus.

Draußen lassen sich dann noch interessante Dialoge zwischen Gästen und Personal belauschen ("Und, wohnste allein?", "Und dein Freund?") und das vielfältige weitere Zerstreuungsangebot wahrnehmen. Ich kann mich nicht recht entscheiden, ob ich an dem Workshop "Kreativ mit der Kettensäge" teilnehmen soll, der auf einem Flyer beworben wird, oder lieber im Skulpturengarten aus Plastikkühen und Statuen griechischer Göttinnen flanieren möchte. Immerhin weiß ich nun, wo es Arbeit für arbeitslose Kunsthistoriker_innen gibt: Sie betexten "Verwöhnangebote" statt Kunstwerke zu deuten. Ein nicht nur entschleunigender, sondern auch lehrreicher Nachmittag - ebenso wie mein Monat in Bayreuth.

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