Vielleicht ist das ein Irrtum,
denke ich im selben Moment. Denn das Kind erzählt weiter, erzählt davon, wie
nett es sei, dem Pferd die Gerte zu geben. Es zucke dann immer so erschreckt,
und dann wisse das Kind, dass das Pferd Angst vor ihm habe, erzählt es
begeistert. So klein und schon so widerlich, ich bin erschrocken. Sowieso
erschrecke ich häufig, wenn ich mit Kindern rede. Die sollten doch anders sein,
unschuldig und aufgeregt, immer begierig, etwas Neues zu lernen. Statt eines
neugierigen, niedlichen Wesens sitzt hier aber ein selbstbewusster Machtmensch
vor mir, der mich zum ersten Mal in meinem Leben das Wort „garstig“ denken
lässt. Ein altes, altmodisches, garstiges Wort.
Womöglich hat das damit zu tun,
dass ich mich plötzlich so alt fühle, meilenweit entfernt von diesem Kind,
plötzlich gealtert und hinweggeschrumpelt von der Kinderwelt voller Gerten. Das
garstige Kind spricht weiter, erzählt von den anderen Reitkindern, von dem
Mädchen, das nicht mal eine eigene Reithose hat, einfach in Jeans auf dem
Reiterhof erscheint, und dann noch mit hässlichen aus dem Kaufhaus, nicht mal
von einer Marke. Mehr und mehr nervt mich das Kind. Wie es wohl abgestellt
wird, frage ich mich, und mir fällt nichts ein.
Gute Menschen, und ein guter Mensch
will ich schließlich sein, gute Menschen lieben Kinder. Also lächle ich das
Kind an, lächle zu seinen Pferdegeschichten, sage, ja, wirklich niedlich zu
seinem Pferdefoto, frage nicht, warum das Kind ein so teures Handy hat und
warum es ihm so viel Spaß macht, mit der Gerte zuzuschlagen. Ich frage nicht,
wieso es mich eigentlich vollquatscht, warum es mir seine Pferdegeschichte
erzählt und wieso es sich nicht wehrt gegen die Bügelhose, die doch sicher
furchtbar unbequem ist und außerdem heiß, denn es ist August und der Schweiß
läuft mir wasserfallartig herunter. Das Kind schwitzt nicht, sehe ich.
Wie immer geht bald die Abteiltür
auf, ein Kellner kommt herein und bietet Kaffee feil und Kekse und Snacks. Wie
immer kaufe ich nichts, mir ist das alles zu teuer. Ich habe Leitungswasser in
der Tüte und Brot. Aber das Kind kauft ein, kauft Schokokekse und Saft und Kuchen,
diesen eingepackten viereckigen. „Meine Eltern haben mir beigebracht, dass ich
anderen abgeben soll“, sagt das Kind wohlerzogen und reicht mir einen Keks. Ich
weiß, die Eltern haben dazugesagt: „Den Armen abgeben“, und auch: „Aber lass
sie niemals deinen Reichtum spüren“, und ich weiß, dass das Kind gut zugehört
hat und ein braves Kind sein will, das alles richtig macht.
Bei armen Erwachsenen ist das
leichter als bei Kindern in billigen Hosen, die auch mal auf das Pferd wollen,
ich weiß. Dass das gar nicht mehr ganz garstige Kind Kinder mit Reithose toller
findet als die ohne, kann ich ihm kaum verübeln. Muss ja nicht gleich
übertreiben. „Nimm ein bisschen von meinen Ferrero Küsschen“ ist besser als: „Kauf
dir selber was“, so viel ist klar. Nur ein ganz kleines bisschen hat das Kind
die Nase gerümpft, als ich mich zu ihm ins Abteil gesetzt habe, viel weniger als
die Erwachsene, die ihm gegenüber saß. Das Kind hat gleich gemerkt, dass es
keine nette Geste war, die Nase zu rümpfen über einen anderen Menschen. Die
Erwachsene hat das nicht gemerkt. Die hat sich sogar weggedreht. Seitdem guckt
sie aus dem Fenster, auch wenn da gar nichts anzugucken ist. Nur Landschaft aus
Wiesen und Feldern und ab und zu mal ein paar Bäume, seit einer halben Stunde
unverändert das Gleiche.
Das Kind zeigt weitere Fotos, Fotos
von seinem Pferd und anderen Pferden und Kindern mit und ohne Reithosen, von
Stalltüren und Schildern an Stalltüren und Pferden hinter Stalltüren, von
Reithallen und Reitplätzen und Kindern auf Reitplätzen und auf Pferden. Mir
fällt nicht viel ein zu den Pferden, ich weiß nicht, welcher Kommentar passend
wäre, was zu sagen ist zu all diesen Pferden und pferdebedingten Accessoires
und pferdebezogenen Plätzen. Schönes Pferd, schöner Stall? Ein wenig einseitig
scheint mir das und etwas unsicher, ob es genau trifft, was das Kind sagen
möchte und was es mitteilen will mit seinen Fotos.
Was ist also der passende Kommentar
zu dieser Pferdegeschichte? Ich taste mich vor, versuche es, ganz langsam
steige ich ein mit ein paar gehauchten Lauten, aktives Zuhören hieß das mal, in
einem anderen Leben. Hm hm, mache ich, und oh, aha. Misstrauisch schaut das
Kind mich an, ein bisschen spät kommen sie vielleicht, meine Laute, und das
aktive Zuhören wirkt womöglich aufgesetzt. Aktives Zuhören, vielleicht braucht
das auch aktives Hinschauen, denke ich und beginne, aktiv hinzuschauen. Das
Kind ist klein, viel kleiner als ich, und es passt bequem auf den Sitz neben
mir, sogar im Schneidersitz. Seine Schuhe hat es ausgezogen und ganz ordentlich
nebeneinander unter seinen Sitz gestellt. Es sind Lackschuhe, weiße Lackschuhe
von einer Sorte, die ich im vorletzten Jahrhundert vermutet hätte. Sie scheinen
entkommen zu sein aus einem abgeschlossenen Zeitalter und sich irgendwie in
diese Gegenwart hier gerettet zu haben, entsprungen vielleicht aus einem Roman
von Lewis Carroll und durch eine Zeitspalte in diesem Zug hier gelandet.
Die Socken hat das Kind noch an,
Söckchen würden manche dazu sagen, solche Leute, die auch garstig sagen. Weiße
Socken mit einem gekräuselten rosa Rand. Sie sind nicht schmutzig, obwohl das
Kind schon lange schuhlos in diesem Abteil sitzt. Lange Haare hat das Kind,
dunkelbraun und ganz glatt, Haare, die an den meisten Kindern unordentlich
herunterhängen würden, so wie meine. An diesem Kind liegen die Haare
nebeneinander, als seien sie einzeln in Reih und Glied dort abgelegt, als hätte
sie jemand mit einer Stricknadel voneinander getrennt und säuberlich sortiert.
Das Gesicht des Kindes ist ein gewöhnliches Kindergesicht, rund und mit einem
Mund, einer Nase und zwei Augen. Ein paar Pickel hat das Kind, und sein Mund
erscheint mir besonders groß. Aber vielleicht liegt das daran, dass es so viel
redet. Beim aktiven Zuhören habe ich besonders auf den Mund des Kindes
geachtet. Jetzt betrachte ich das Handy in der Hand des Kindes. Es ist sehr
groß, größer als die meisten Handys, die ich kenne. Es ist schwarz. Die Hände
des Kindes sind klein, und seine Fingernägel sind sauber und ganz regelmäßig
geschnitten.
Vielleicht spielt das Kind nicht
draußen, überlege ich, oder es trägt dabei Handschuhe. Ich weiß nicht mehr, wie
meine Fingernägel aussahen, als ich ein Kind war, aber ich glaube nicht, dass
sie so sauber waren. Das Kind riecht nach Seife. Das irritiert mich. Vielleicht
ist es das, was mich an dem Kind irritiert, nicht das Pferd und das Handy und
das Gerede. Ein Kind an einem heißen Sommertag, das in einem Zugabteil sitzt
und nach Seife riecht. Ich glaube nicht, dass ich als Kind nach Seife gerochen
habe. Das Kind riecht nach Seife und sieht aus wie ein Stück Seife.
Die Erwachsene in der Ecke am
Fenster riecht nach gar nichts. Vorhin hat sie Kaffee aus einer Thermoskanne
getrunken, da roch sie nach Kaffee. Aber jetzt ist der einzige Geruch der nach
Seife, und manchmal strömt der eines gedüngten Feldes durch das angekippte
Fenster herein.
Aktives Zuhören und aktives Sehen,
so gut passt das doch nicht zusammen, denke ich. Auf mein letztes Hm Hm hat das
Kind mich besonders lange irritiert angesehen. Braune Augen hat das Kind, die
so rund sind wie die Augen einer Kuh oder eines Pferdes. Welche Augenfarbe hat
dein Pferd, frage ich das Kind, und zum ersten Mal wendet die Erwachsene in der
Ecke ihren Blick ab vom Fenster. Sie hat blaue Augen, sehe ich da, die sie
schnell wieder nach draußen richtet.
Sie sind aber seltsam, sagt das
Kind, wie kommen Sie denn auf das Pferd. Da ist kein Pferd zu sehen auf ihrem
Handy-Display. Zu sehen ist das Kind. Das Kind hat die Arme verschränkt und
sieht aufmüpfig in die Kamera. Aufmüpfig, denke ich, noch so ein Wort.
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