Freitag, 20. Juni 2014

Eine Schreibgruppe für Menschen 50+ entwerfen, das war eine der Aufgaben im Modul "Schreibgruppendynamik und -pädagogik". Einen solchen Kurs würde ich erst in 15 Jahren leiten (in nur 15 Jahren bin ich schon 50 ?!), war meine spontane Reaktion - denn ich verfüge nicht über die Lebenserfahrung dieser Zielgruppe, kann Themen und Sichtweisen vielleicht nicht teilen, gerade beim biografischen Schreiben nicht. Das Konzept einer Schreibgruppe für Frauen, die von einem Mann geleitet wird, würde ich schließlich auch nicht als besonders durchdacht empfinden.
Schien mir ganz allgemein gültig, diese Auffassung.



Und dann die Begegnung gestern, die ein neues Interesse in mir geweckt und diese feste Überzeugung ins Wanken gebracht hat. Mitten in Neukölln, abends gegen 21 Uhr, vor den Cafés sitzen Menschen mit Bier in der Hand oder Salatteller vor sich, blicken interessiert bis irritiert zu der alten Frau, die auf der schmalen Straße herumstolpert,
immer wieder versucht, den Bordstein mit ihrem Stock zu ertasten, zwischen geparkten Autos hindurchzukommen, und dann wieder auf der Straße weiterläuft. Vorbeifahrende Autos weichen ihr mühsam aus, bis eine Fahrerin schließlich anhält und sie anspricht. Erst in dem Moment tue ich das auch - bis dahin war ich nicht sicher, ob sie wirklich hilflos ist, war wahrscheinlich auch zu bequem.

Die Fahrerin fährt beruhigt weiter, die Frau und ich setzen uns auf eine Bank, finden ihre Adresse auf einem Zettel in ihrer Handtasche, rufen dort an. Am anderen Ende der Leitung eine unfreundliche, genervt wirkende Mitarbeiterin einer WG (später finde ich im Internet heraus, dass es sich um eine Wohngruppe für Demenzpatient_innen handeln, angeblich mit 25stündiger Intensivbetreuung).
Sie ist weder erstaunt darüber, dass ihre Klientin verwirrt in den Straßen herumläuft, noch in irgendeiner Weise besorgt.

Nach dem Telefonat blickt Frau X mich ängstlich an, fragt: "War die freundlich?" "Ja", sage ich. Denn Frau X ist sowieso schon voller Angst. Angst vor den Betreuerinnen, Angst vor den Mitbewohnerinnen. Sie schläft mit der Tasche unterm Kopfkissen, behauptet, man habe ihre Schuhe zerschnitten, damit sie nicht rauskönne - sie hat Hausschuhe an. Gemeinsam gehen wir zu der Wohngruppe. Es dauert lange. Frau X ist fast 90, und sie glaubt, dass sie schon seit dem Morgen unterwegs ist. Auf dem Weg erzählt sie verworrene Geschichten, viele handeln von Verwahrlosung, Ausgeliefertsein, Armut.

In der Wohngruppe erwartet uns eine furchtbar unfreundliche Person, kein Wort zu mir, und eine Anrede im Kommandoton an die arme Frau X. Wahrscheinlich bekommt die jetzt Ärger. Am nächsten Tag beschwere ich mich telefonisch beim Träger. Ich bin wütend und traurig. Und ja, ich weiß, wie verdammt schwierig dieser Job ist, wie verdammt wenig diese Menschen verdienen, wie wenig ihre Lesitung geschätzt wird. Aber es treibt mir immer noch die Tränen in die Augen. Ich denke an meine Oma, ebenfalls dement in den letzten Jahren ihres Lebens, an mich selber, die ich mangels Rente und Kindern gute Chancen habe, in genauso einer Einrichtung zu landen.

Und natürlich, eigentlich muss sich auf der politischen Ebene etwas ändern, muss der Stellenwert sozialer Arbeit steigen, muss der demografische Wandel und so weiter. Mir fällt nur etwas viel Kleineres ein. Warum nicht eine Schreibgruppe für Demenzkranke? Ich habe keine Ahnung, inwieweit die Schreibfähigkeit nachlässt oder aussetzt, wenn Menschen von Demenz betroffen sind. Aber vielleicht hält Schreiben den abbau auf? Eher vielleicht als der allwöchentliche Besuch von Frau Meier mit ihren beiden Meerschweinchen im Altersheim meiner Oma.

Eine biografische Schreibgruppe für eine Zielgruppe, der ich nicht angehöre, möchte ich immer noch nicht durchführen. Eine therapeutisch ausgerichtete vielleicht schon.

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